Krank zur Arbeit kommen, ständig erreichbar sein, immer mehr Aufgaben bewältigen: Die Belastung für viele Arbeitnehmer nimmt zu. Immer mehr Beschäftigte arbeiten deshalb über die eigenen Grenzen hinaus – und begeben sich in die interessierte Selbstgefährdung.
Damit ist ein Verhalten gemeint, bei dem Menschen wissentlich die eigene Gesundheit durch ihr persönliches Handeln am Arbeitsplatz gefährden. Das kann an der Loyalität gegenüber dem Unternehmen liegen oder am Eigeninteresse des beruflichen Erfolgs.
Der Schweizer Psychologe Andreas Krause, der den Begriff prägte, sieht darin eine Bewältigungsstrategie, zu der die Beschäftigten in besonders erfolgs- oder ergebnisorientierten Arbeitsumfeldern greifen.
Überbelastung betrifft nicht nur einzelne Berufsgruppen
Davon betroffen sind nicht nur Führungskräfte, Freiberufler oder Existenzgründer. Auch „normale“ Angestellte unterwerfen ihre Gesundheit zunehmend den Anforderungen der Arbeit. In einer Stressstudie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016 gaben zwei Drittel der Beschäftigten an, unter Stress und Erfolgsdruck am Arbeitsplatz zu leiden.
Die Symptome für die interessierte Selbstgefährdung sind vielfältig. So trägt die Digitalisierung dazu bei, dass die Erreichbarkeit nicht nur während der Arbeitszeit gegeben ist. Örtliche und zeitliche Hürden spielen keine Rolle mehr. Viele lesen auch am Wochenende oder sogar während des Urlaubs E-Mails oder bearbeiten Dokumente. Anrufe der Vorgesetzten oder von Kollegen werden häufig auch noch nach Feierabend angenommen.
Weitere Symptome sind:
- Trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen
- Mehr als elf Stunden arbeiten
- Viele Überstunden leisten
- Auf Erholungspausen verzichten
- Umgehen von Sicherheitsstandards und Arbeitsschutzmaßnahmen
- Arbeiten am Wochenende
Wie kommt es dazu? Die Messbarkeit von Leistung ist mittlerweile in allen Unternehmensbereichen angekommen. Führung drückt sich nicht mehr direkt durch Weisungen aus, sondern indirekt durch die Vorgabe von Zielen. So muss sich beispielsweise nicht nur der Vertrieb an konkreten Abschlüssen messen lassen. Auch andere Abteilungen orientieren sich an Kennziffern, Zielvorgaben und Benchmarks.
Erfolg messbar machen = höheres Gesundheitsrisiko?
Diese produktivitätssteigernden Konzepte führen zu einer Eigendynamik. Denn die Vorgesetzten appellieren an das Leistungsvermögen der Beschäftigten, das sich dann direkt auf die Entwicklung des Unternehmens auswirkt.
Davon betroffen sind nicht nur Privatwirtschaft oder Nonprofit-Organisationen. Auch der öffentliche Dienst, Verwaltungen und Freelancer optimieren sich fortlaufend selbst und setzen dafür messbarer Parameter fest.
Grundsätzlich muss das nichts Schlechtes sein. Viele Arbeitnehmer können sich besser an solchen Vorgaben orientieren. Sie schaffen Freiräume zur persönlichen und fachlichen Weiterentwicklung. Wie man diese Ziele erreicht, obliegt den Mitarbeitern selbst. Bei erreichen winken einem dann Privilegien.
Außerdem kann es die Effizienz und die Selbstorganisation der Mitarbeiter fördern. Beruflicher Erfolg wirkt auch befreiend und stärkt das Selbstbewusstsein. Doch das darf nicht zu Lasten der eigenen Gesundheit gehen. Wichtiger und richtig sind Maßnahmen, die Gesundheit und Erfolg in Einklang bringen.
Wie kann man interessierte Selbstgefährdung vermeiden?
Sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer können vorbeugen. Welche Regeln Sie befolgen können:
- Eine offene Kommunikationskultur fördern: Beschäftigte brauchen sichere Orte, in denen man ihnen Handlungsmöglichkeiten für einen gemeinsamen Umgang mit Druck, Zeit und Stress aufzeigt. So können Wege entwickelt werden, bei denen Unternehmensziele auch unter dem Erhalt der Gesundheit erreichbar sind.
- Pausen einlegen: Pausen sind wichtige Bausteine des Arbeitsalltags. Sie wirken sich positiv auf die Leistungsfähigkeit aus und sorgen dafür, die Qualität der Arbeit hochzuhalten. Dabei erfüllen sie zwei Funktionen: Erholung von getaner Arbeit und Fokussierung auf neue Aufgaben.
- Arbeiten in Teams: Wer gemeinsam mit anderen arbeitet, der kann auf ein soziales Unterstützungssystem zurückgreifen. Überbelastung, Krankheiten, Stress – all das wird leichter von vielen erkannt.
- Führungskräfte schulen: Die Folgen der interessierten Selbstgefährdung sind nicht nur für die Beschäftigten gravierend, sondern auch für das Unternehmen. Führungskräfte sollten dies frühzeitig erkennen und entsprechende Maßnahmen zur Vermeidung ergreifen.
- Freiräume einfordern: Beschäftigte arbeiten zunehmend selbstständig und losgelöst von starren Hierarchien. Arbeitnehmer sollten ihnen dieselbe Flexibilität auch in Bezug auf die Schaffung und Einteilung von Freiräumen im Rahmen der Möglichkeiten gewähren.
Ziel muss es immer sein, interessierte Selbstgefährdung zu vermeiden. Denn sie bedeutet, den persönlichen Zielen und Unternehmenszielen die eigene Gesundheit unterzuordnen. Wer ständig überlastet, gestresst und krank arbeitet, liefert keine guten Ergebnisse ab. Aus einer Win-Win-Situation entwickelt sich eine Loose-Loose-Situation. Deshalb müssen Beschäftigte und vor allem Arbeitgeber gemeinsam aushandeln und darauf achten, dass Erfolge nicht auf Kosten der Gesundheit erzielt werden.
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